// Schwan

In einer Winternacht verschwanden die Schwäne, liessen Seen und Teiche verwaist zurück. Niemand sah, wohin sie gingen, niemand beobachtete die Reihe stolz gestreckter Hälse, die flatternde Wolke weisser Flügel, die sich in der Nacht verlor. Übrig blieben nur Schwanspuren im frisch gefallenen Schnee.

„Vielleicht“, sagte Aurelia am nächsten Morgen mit der ganzen Weisheit ihrer vier Lebensjahre, „vielleicht wollen sie nicht mehr der Queen gehören, sondern sich selber.“ Aber Aurelias Mutter musste sich aufs Lächeln konzentrieren und Aurelias Vater konzentrierte sich darauf, ein weiteres perfektes Familienfoto zu schiessen, und die ratlosen Parkwächter konzentrierten sich auf die leere, dunkle Wasseroberfläche und die Enten starrten von Weitem auf das hektische Suchen und Rufen und Locken. So hörte niemand, was Aurelia sagte, und niemand half Aurelia einen Brief an die Queen zu schreiben und die Queen schenkte den Schwänen ihre Freiheit nicht und die Schwäne blieben fort.

Dafür kamen Ornithologen und Biologen und Zoologen, aber die redeten nicht mit Aurelia, sondern mit Aurelias Papa, der meinte, der Park sei schon nicht mehr das Gleiche, so ganz ohne Schwäne, und mit Aurelias Mama, die sagte, für die Kinder sei es besser so, die seien ja ziemlich aggressiv, diese Schwäne, und gross noch dazu. Und weil niemand mit ihr redete, redete Aurelia halt mit den Enten. „Immerhin seid ihr jetzt frei. Jetzt hat es niemanden mehr, der euch rumscheucht. Jetzt gehört das Ufer euch“, sagte sie und die Enten schnatterten und nickten und pickten am Gras.

// Grosser Wagen

Wie zwei verirrte Sternschnuppen waren die Scheinwerfer den dunklen Berg heruntergeschwebt, der im Nachtblau verschwand und in den Himmel blutete, so dass man gar nicht mehr sagen konnte, wo der Fels aufhörte und das Firmament anfing oder der Fels anfing und das Firmament aufhörte. Das Brummen des Motors schwoll langsam an, echote als sanftes Schnurren durch das Tal und wir stellten uns vor, dass die dunklen Berge schlafende Katzen seien, aber dann verwandelten sich die beiden wandernden Sterne in Scheinwerfer, und der grosse Wagen strahlte die schmale, sich windende Strasse mit weit aufgerissenen Lichtaugen an.

Endlich hielt das Postauto vor unseren Füssen, die Tür öffnete sich mit einem schweren Seufzer und die Fahrerin winkte uns mit einem stummen Nicken herein. Wir stiegen ein, in den grossen Wagen, der sich wieder in Bewegung setzte, ein schwerfälliges Tier, das die letzten Wanderer aus der Einsamkeit holte, sie schluckte und wegtrug, damit der Berg wieder dem Berg gehörte, damit die Nacht und der Fels und die Kälte sie nicht schlucken konnten. Wir stellten unsere staubigen Rücksäcke ab, sanken mit müden Beinen auf die Sitze. Das Postauto wiegte uns talwärts durch die Dunkelheit, unsere Augenlider wurden schwer, eine satte Zufriedenheit versprach tiefen, erholsamen Schlaf. Um uns herum schlummerten andere erschöpfte Berggänger, die sonnenverbrannten Gesichter klebten lächelnd an Lehnen und Fenstern, nur die Fahrerin wachte über unsere Träume, ihre ruhigen Hände mit den postautogelben Fingernägeln sicher am Steuer.

// Rabe

Der Rabe, der Rabe hat alles gesehen, die Nadelstiche aus Licht, die aus dem Fensterrahmen schossen, als das Glas zerbarst. Die drei roten Tropfen, die als Blutzoll von meiner Handfläche fielen, ins Blumenbeet, dem Rosenstock zu Füssen. Er krächzte, einmal nur, das bedeutet Glück. Hätte er dreimal gekrächzt, wäre ich umgekehrt, hätte mich vom verschlafenen Haus abgewandt, wäre den grautürkisfarbenen Wänden geisterhaft gefolgt, durch den mit militärischer Präzision gepflegten Garten, und wäre auf den Vorstadtstrassen verschwunden, eine gebeugte Gestalt mit schmutzigem Rucksack, die Kapuze tief im Gesicht.

Aber der Rabe, der Rabe krächzte nur einmal und so kletterte ich vom Blumenbeet auf den Fenstersims und durch das glasgezahnte Loch. Ein Geruch von Putzmitteln und Staub empfing mich, ein beruhigendes Gefühl der Abwesenheit, des Wartens. Ich schaute mich um. Die letzten Strahlen der Abendsonne waren mir durch das zerbrochene Fenster gefolgt, zeigten mir die dämmrigen Umrisse einer Küche, bevor sie sich in der Stille des Hauses verloren.

Ich stellte meinen Rucksack neben den Herd, öffnete den Kühlschrank, der surrend erwachte, seine fast leere Bauchhöhle ausleuchtete, bis ich ihn wieder schloss. Ich öffnete Kästchen und Kästen, und wurde schliesslich in der kleinen Vorratskammer fündig, die sich hinter der vermeintlichen Kellertür verbarg. Mehl, Zucker, Schokolade, Backpulver, ich reihte sie auf dem Küchentisch auf, suchte Butter im Tiefkühlfach, Salz und Zimt im Gewürzregal. Die Eier hatte ich mitgebracht.

Das Küchengerät fand ich im Schrank, die Kuchenformen unter dem Backofen. Ein Herz hatte ich zur Auswahl, und eine Rose. Ich wählte das Herz. Noch würde es ihr gefallen, in ein paar Jahren werde ich die Rose wählen. In ein paar Jahren werde ich in der eigenen Küche backen, werde nicht mehr auf fremde Geräte angewiesen sein, zwischen Formen wählen müssen, die ich nicht gewählt habe. In ein paar Jahren, bestimmt.

Während der Teig im Ofen buk, wanderte ich durch die Räume des Hauses, schaute mir die Fotos an, auf denen sich die Gestalten in der Dunkelheit nur schemenhaft abzeichneten. Aber ich brauchte sie nicht genau zu sehen, ich wusste auch so, was sie zeigten. Glückliche Paare, stolze Eltern, Babybilder, Ferienfotos, Klassenporträts und dazwischen, manchmal, Angeltrophäen. Die Schlafzimmer waren oben, aufgeräumt, jemand hatte die Betten vor der Abreise frisch bezogen, ein Geruch von Jasmin hing noch in der Luft.

Den Schmuck hatten sie nicht versteckt, er lag fein säuberlich geordnet in der obersten Schublade des weiss-lackierten Schminktisches im Elternzimmer, links die Fingerringe, goldene, silberne, mit Diamanten und Bernstein. Die Ohrringe, rechts, waren nach ihrer Grösse sortiert und die Kettchen, in der Mitte, sorgfältig aufgerollt. Die Anhänger blitzen auf, als ich mit der Taschenlampe kurz darüber leuchtete, bevor die Dunkelheit sie und mich und die Versuchung wieder schluckte. Ich schob die Schublade zu, liess alles an seinem Platz. Schlüpfte stattdessen ins Kinderzimmer, wo gläserne Teddy-Augen meinen tastenden Schritten folgten.

Draussen krächzte der Rabe, ich knipste die Taschenlampe ein zweites Mal wach, liess den Lichtstrahl über das Büchergestell schweifen. Mein Blick wanderte über die Titel und meine Finger über die Bücherrücken. Da, ich zog ein Buch aus dem Regal, fuhr mit der Hand zärtlich über den Deckel und steckte die Taschenlampe wieder in die Hosentasche. Aus der Küche rief mich der Timer mit einem aufdringlichen Piepen, und während der Kuchen auf dem Tresen auskühlte, wickelte ich das Buch in Alufolie, formte aus dem dünnen Metall eine Schleife, liess das Geschenk in meinen Rucksack gleiten.

Eine halbe Stunde später war die Küche sauber, der Kuchen verpackt. Der Rabe sass noch immer draussen im Geäst, sah im Mondlicht zu, wie ich aus dem Fenster kletterte, den Rucksack vorsichtig durch die Scherben hob. Vom Fenstersims sprang ich ins Blumenbeet, landete dem Rosenstock zu Füssen. Dunkle Erde blieb unter meinen Fingernägeln haften, als ich meine Spuren verwischte. Der Rabe, der Rabe sah zu, wie ich den grautürkisfarbenen Wänden entlang schlich, durch den mit militärischer Präzision gepflegten Garten, und auf den Vorstadtstrassen verschwand. Er krächzte, einmal nur, das bedeutet Glück. Dann breitete er die schwarzen Schwingen aus und folgte mir in die Nacht. Wir wurden vom Geburtstagskind erwartet.

// Fuchs

Der Fuchs ist ein Geist ist ein Formenwandler. Der Fuchs ist eine schöne Frau. Der Fuchs hat sich in die Stadt hineingeschlichen, hat im Hinterhof seine Höhle gegraben, hat seine papiernen Vorhänge aufgezogen, seine erdenen Töpfe aufgestellt. Der Fuchs erinnert sich nicht ans Grasland und den Wald. Denkt nicht an die Schmetterlinge, an die Laubböden, die Eulengesänge, von denen der pensionierte Wildhüter schwärmt. Der Fuchs erinnert sich an die kalten Winter und die Jagd. Der Fuchs zieht vom Hinterhof in die Garage, von der Garage ins Wohnzimmer. Der Wildhüter spricht von der Natur, von der Ordnung, von der Vergangenheit. Der Fuchs lacht. Kauft sich eine Teekanne, und ein Buch, und neue Schuhe. Isst die Hühnerbrust mit Stäbchen. Der Wildhüter zieht aus, zieht mit dem Stock durchs Land. Lässt sich ein rotbraunes Fell wachsen. Stiehlt Hühner und Reis, wird aus dem Dorf gejagt. Wird zum Geist. Der Fuchs ist ein Formenwandler, der Fuchs ist ein alter Mann. Der Fuchs trägt im Fell das Feuer und in den Augen die Zeit. Der Fuchs schleicht sich in die Stadt, gräbt im Hinterhof seine Höhle. Die schöne Frau lässt die Tür zum Wohnzimmer offen, setzt die Teekanne auf den Herd. Der Geist ist ein Fuchs ist ein Formenwandler. Der Fuchs ist ein junger Mann. Der junge Mann zieht seine Schuhe aus. Faltet das Fell, legt es der schönen Frau zu Füssen. Der Fuchs lacht. Er ist ein Formenwandler ist ein Geist. Der Fuchs ist eine schöne Frau.

// Wal-Fische

Wir standen da, die Füsse in Zuckerwatte gehüllt, und tranken weisse Schokolade aus goldenen Gläsern. Unser Schiff war die Mondsichel, wir hatten uns aus der Abenddämmerung Segel genäht. Der Nachthimmel lag ruhig, dann und wann schieferte eine Sternschnuppe über den Horizont. Wir warteten. Die Schokolade wurde kalt, ein Hauch von Himbeeren hing über dem Boot. Unsere Mäntel hatten wir aus Zucker gesponnen, ebenso wie unsere Netze. Wir fischten nach verlor’nen Wünschen, die aufwärts zu den Sternen trieben. Meine Taschenuhr schlug Mitternacht, als neben uns sich eine Insel in den Himmel schob, ein Auge kurz auf unsrer Höhe sich verweilte und uns in die Herzen sah. Wir hoben die Gläser zum stummen Gruss, zwei nächtliche Reisende zu einer dritten. Ein Lächeln schien in Tiamats Auge, als sie zurück auf den Äquator sank. Wir stiessen an auf ihren Segen und zupften unsre Netze neu zurecht, fast hätten sich die Fische drin verfangen. Ich setzte frische Schokolade auf, liess sie auf einer Handvoll verblühter Sonnenstrahlen schmelzen. Und wir standen da, die Füsse in Zuckerwatte gehüllt, und tranken weisse Schokolade aus goldenen Gläsern.

// Erde

Die Nadel sticht in den dunkelblauen Stoff, die Rakete in den Himmel. Ina spürt den festen Griff der Erdanziehung, der sie sonst so sanft am Boden hält, wie er sich verkrampft, bevor er sie loslässt. Vor dem Fernseher verkrampfen sich die Hände von Inas Mutter, das Gewebe zwischen ihren Fingern zerknittert, die Nadel fällt zu Boden. Ihre Augen folgen dem gelben Faden, dem auf dem Bildschirm, den die Rakete durch den Himmel zieht. Ina hat die Augen geschlossen. Sie stellt sich die Erde vor, die unter ihr verschwindet, sieht sie hinter dunklen Augenlidern wie einen Quilt ihrer Mutter, ein Flickenwerk aus Farben und Oberflächen, manche rau und manche seidig. Inas Mutter streicht die Flicken glatt, ihre Fingerspitzen tasten nach der Nadel. Ob sie genug gelben Faden hat? So viele Sterne hat sie noch zu sticken.

// Erde

„Gut“, sagte das Grün und das Blau nickte leise. Ein dünner Pinselstrich begann sich wie ein Tentakel aus seinen Tiefen zu strecken und tastete nach dem schweren Metalldeckel, der über den Farben lag. Er zwängte sich durch den Spalt zwischen dem Deckel und der flachen Schale, deren Vertiefungen das Blau, das Grün und all ihre Geschwister hielten, und schlängelte sich suchend entlang den abgerundeten Kanten.

„Hast du’s?“ flüsterte das Grün nervös. „Gleich“, antwortete das Blau. Das Grün schwappte schon beinahe über vor Ungeduld. Endlich, das lang erwartete ‚Klick‘. „Hilf mir mal“, murmelte das Blau. Das Grün stemmte sich nach oben, drückte mit aller Kraft gegen den Deckel, der sich einen spaltbreit öffnete. Licht fiel ins Dunkel des Farbkastens. Schnell schlüpfte das Blau durch den Spalt. „Jetzt du, beeil dich!“, drängte es das Grün und hielt den Deckel von aussen mit seinen zwei dunkelsten Ausläufern. Das Grün liess los und folgte dem Blau in die Welt, und die Welt war gross.

Staunend berührte das Blau Vogelfedern und Blütenblätter, Fischschuppen und Steinadern. Das Grün folgte ihm langsam. Zögerlich streckte es sich nach einem Grashalm aus, berührte ihn und kicherte erfreut, als er sich verfärbte. Das Grün tippte einen zweiten Halm an, dann einen dritten. Und plötzlich war es nicht mehr zu halten, es griff nach jedem Grashalm, nach jedem Blumenstiel, nach jedem Farnwedel. Es sprang von Blatt zu Blatt durch die Bäume und glitt von Nadel zu Nadel durch die Wälder.

Das Blau hatte sich unterdessen ins Wasser gelegt und in die Ozeane treiben lassen. Friedlich schaukelte es auf den Wellen und schaute zu, wie das Grün lachend und sprudelnd über die Erde tobte. „Komm“, sagte es schliesslich, als das Grün atemlos am Ufer stand und sein Werk begutachtete, „hier hat es Platz für uns beide.“ Mit einem zufriedenen Seufzer glitt das Grün zum Blau ins Nass. „Danke“, murmelte es und schloss für ein Weilchen die Augen. Als es sie wieder öffnete, war das Blau verschwunden.

Das Grün schaute sich erschrocken um. Es tauchte durch Buchten und Gräben, durchs Meer, das alle Töne des Blaus aufgenommen hatte, aber das Blau selbst konnte es nicht finden. „Wo bist du?“, rief es verzweifelt. Von fern trug der Wind leise Worte heran. „Verzeih mir“, flüsterte das Blau aus den Tiefen des Himmels, „die Sterne haben nach mir gerufen.“ Das Grün schaute nach oben und sah hinauf in den dunkelblauen Nachthimmel. „Du kommst nicht mehr zurück, oder?“, fragte es verloren, obwohl es die Antwort schon kannte.

Ein Schluchzen wallte durch das Grün wie Luftbläschen aus einem Geysir kurz vor der Eruption. Was sollte es tun, so ganz alleine auf der Welt, wo doch das Blau seine Spuren hinterlassen hatte, die es immer an seine Abwesenheit erinnern würden? Das Grün versuchte sich zu beruhigen, klar zu denken und einen Plan zu fassen, als es ein Summen bemerkte, das lauter wurde. „Na, na, na, nicht traurig sein“, sang eine melodiöse Stimme. Das Grün schluckte leer. Die Architektin hatte die Eskapade entdeckt.

„Was machen wir denn jetzt mit dir?“, fragte die Architektin in ihrem weichen Singsang. Das Grün getraute sich nicht zu antworten. Kleinlaut tauchte es unter und versuchte sich im Seetang zu verstecken. Die Architektin lachte. „Ach, ich weiss schon“, sang sie verschmitzt, „ich schicke dir das Rot und das Gelb, das Orange, das Violett, das Braun, das Schwarz und Weiss auf die Welt.“ Das Grün streckte einen vorsichtigen Ausläufer aus dem Wasser und lauschte. Von Weitem hörte es das bekannte ‚Klick‘, als der Farbkasten sich öffnete.

„Danke“, murmelte das Grün verlegen zur Architektin. Und „Danke“, sagte es stumm in Richtung Nachthimmel, auch wenn das Blau es nicht mehr hören konnte. „Danke“, sang auch die Architektin und betrachtete vergnügt ihre farbige Welt.

// Sonne

Da stand ich, wie eine Marionette, deren Fäden sich verwirrt hatten. Wie konnte ein einzelner Kuss solches Chaos anrichten? „Haltet still“, befahl ich meinen Händen, aber sie gehorchten mir nicht. Berührten stattdessen sanft deine Wangen und entlockten dir ein Lächeln. „Tretet zurück“, sagte ich meinen Füssen und riss verärgert an den Schnüren, aber sie waren so verheddert, dass meine Beine stattdessen näher an dich heranrückten. Nicht einmal meinen Kopf beherrschte ich noch; statt sich zu schütteln, nickte er und legte mein Herz bloss, als du fragtest: „Hast Du Angst?“

Wie konnte das sein? Noch nie hatte mein Verstand, der schlaue Puppenspieler, die Kontrolle verloren! Panik kroch mein Rückgrat hoch. Die Fäden legten sich um meinen Hals, schnitten mir den Atem ab, verknoteten sich umso mehr, je verzweifelter ich daran zerrte. Wie überrascht war ich, als zwei kleine Worte, die so harmlos von deinen Lippen fielen, die Schnüre zertrennten, mühelos, ohne je zu schneiden? „Ich auch“, sagtest du und ein leises Lächeln hallte nach in deinen Augen. Die Sonne hätte in diesem Moment verglühen mögen, ich hätte es nicht bemerkt.

// Nordstern

Wenn der Nordstern ruft, dann folge ihm. Pack einen Apfel und zwei Haselnüsse, drei Kieselsteine und vier Wimpern, und einen Fingerhut voll Mut, mehr brauchst Du nicht. Wickel alles in ein Seidentuch, Dein Pullover tut es auch. Tritt mit dem linken Fuss zuerst über die Schwelle, mach am Briefkasten kurz Halt. Falte Deine Vernunft in einen Umschlag, schreib Deinen Namen drauf und wirf sie ein. Sie wiegt zu schwer für diese Reise. Lauf los mit einem Hüpfer, folge der Nachbarskatze bis zum Märchenwald. Wünsch Dir ein schwarzes Pferd mit einer Wimper, das weisse kennt den Weg im Dunkeln nicht. Für den Apfel trägt der Rappen Dich zum Mammutbaum. Verbeug Dich kurz, und fang zu klettern an, Du musst den hundertdreiundzwanzigsten Ast erreichen. Verzähl Dich nicht, man fällt nur allzu leicht von dieser Höhe, die Wolken sind schwer und klebrig hier. Wenn Du Dich darin verfängst, wünsch Dir ein Eichhörnchen, blas die Wimper ins Geäst nach links. Für zwei Haselnüsse beisst es Dich los und führt Dich auf dem Ast zur letzten Nadelspitze, wo eine Strickleiter in die Nacht nach oben hängt. Leg zwei Kieselsteine in die Hosentaschen, nimm den dritten in den Mund, damit Du nicht zu schnell ins Nachtblau fällst. Fang mit dem Aufstieg an, er dauert bis zum Morgengrauen, wünsch Dir die Nacht zurück, sonst schluckt das Licht Dich mit dem ersten Sonnenstrahl. Wenn Du am Mond vorbei bist, wirf die Kiesel in den grossen Wagen, und sorg Dich nicht, die Bärin hat ein dickes Fell. Nimm die letzte Wimper, wünsch Dir einen Weg, doch sei gewarnt, Du siehst ihn nicht. Besser Du schliesst die Augen und läufst mit dem Herzen als Sextant. Den Nordstern erkennst Du an seinem warmen Lachen, er nimmt Dich zärtlich bei der Hand. Mach die Augen auf, stürz Dich ins Abenteuer – und ja, jetzt brauchst Du Deinen Mut.